AM146 – Brief an Walter Gropius
Franzensbad (Františkovy Lázně), Freitag, 25. Juli 1913


Nachts

Ich bin seit einigen Wochen hier – ganz allein mit [!] und in dieser großen Ruhe und Concentration ist mir so manches hell geworden, was bis da noch dunkel war. Ich bin in einer großen Schuld gegen Dich.

Das Einzige[,] was ich für mich anführen kann, ist – dass ich nicht wusste[,] was ich that – denn ich war hinein gezogen in den herrschenden Kreisel der Analyse und des Skepticismus. —


Das „Du“ – dieses rührend schöne Wesen – konnte ich nicht mehr erfassen. Es thut mir alles \so/ unendlich weh! –

Verzeih mir – und suche wieder, was Du durch mich verloren hast. Deinen schönen, edlen Glauben. Und wisse – ich bin durch mich dort angelangt – wo wir so schwer hinkommen können, weil wir verlockt werden. – Glaube wieder an mich – sowie Du geglaubt hast – ich bin derselbe Mensch[,] den Du gekannt hast –

aber auf der dritten Stufe \jetzt/ – durch Schmerz und Leid und Scham zur Erkenntnis gelangt. Ich weiß nicht, ob Du mir noch erlaubst, so vertraulich mit Dir zu sprechen – ich bin etwas unsicher und glaube doch[,] es thun zu dürfen. –

Ich werde vielleicht heiraten[.] –

– ein unsern Seelen Verwandter[.] —


Mit Dir aber bleibe ich durch alle Ewigkeit verbunden.

Schreibe mir – ob Du lebst – und ob dieses Leben des lebens wert ist.

Mir ist ein jeder Atemzug von Dir lieb und heilig[.]


Apparat

Überlieferung

, , , .

Quellenbeschreibung

2 Bl. (4 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Nachsenden! | Timmendorferstrand (Handschrift ) | W[est] 10 (Postbezirksnummer von unbekannter zeitgenössischer Handschrift) | Berlin Wilmersdorf (von durchgestrichen) | Kaiserin Aug[usta] St.[raße] 68 (unbekannte zeitgenössische Handschrift) | Nicolsburgerplatz 4. G. IV (von und unbekannter zeitgenössischer Handschrift durchgestrichen) | Walter Gropius (von unterstrichen) | z. Zt. Timmendorferstrand Lübeckerbucht b/ Pansdorf (Handschrift ); PSt.: FRANZENSBAD 1 | 26.VII.13 – 7 | * 3a *; Aufdruck: „HOTEL HOLZER, | Franzensbad.“ (); fremdschr. Datierungsversuch nach Übergabe an : „1913“; rückseitig: WG234.

Druck

, S. 143, bei Anm. 62 (Auszug).

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG234 vom 28. Juli 1913 (Stachel im Herzen): Ich werde vielleicht heiraten.

Datierung

Schreibdatum: „26.7.1913“ (, S. 143, Anm. 62).

Der vorliegende Brief AM146 wurde Nachts vor dem Versand (26. Juli 1913) geschrieben, also am 25. Juli 1913.

Übertragung/Mitarbeit


(Bettina Schuster)
(Elke Steinhauser)


A

Ich bin in einer großen Schuld gegen Dich. – Wahrscheinlich bezog sich auf ihre Liebesbeziehung zu , von der spätestens durch seinen Besuch der 26. Ausstellung der Berliner Secession im Frühjahr 1913 erfahren hatte (, S. 115, , S. 142, , S. 186; freilich alle drei ohne Beleg). Dort wurde Doppelbildnis, das ihn und zusammen zeigt, ausgestellt (, S. 22).

B

Ursprünglich: hen.

C

auf der dritten Stufe – der Erkenntnis, wahrscheinlich Referenz auf Höhlengleichnis, s. , Siebtes Buch: ein Gedankenspiel, in dem einer der Höhlenbewohner nach dem Verlassen der Höhle allmählich die platonischen Ideen, die objektiven Abbilder der Erscheinungen, wahrnimmt, was vom Skepticismus als unmöglich postuliert wurde.

D

vielleicht heiraten hatte ein Aufgebot „im Gemeindehaus von Döbling“ bestellt, woraufhin sich nach Franzensbad zurückzog, „bis der Termin für die Hochzeit verfallen war“ (, S. 61).

E

Oskar Kokoschka – österreichischer Maler.

F

Ursprünglich: Lebens.